Die in London geborene, ägyptische Künstlerin Hoda Tawakol (*1968) lebt und arbeitet heute in Hamburg. Ihre künstlerische Praxis umfasst neben Arbeiten auf Papier auch handgefärbte und genähte Textilarbeiten, Mixed-Media-Skulpturen, Stoffcollagen und Installationen. Ihre Annäherung an die zeitgenössische Textilkunst ist tief in der feministischen Bewegung der 1970er Jahre verwurzelt und versucht, Symbole und Archetypen zu dekonstruieren, die einer weiblichen Agency im Weg stehen.
Im Rahmen des Programms Résidences Croisées zwischen den Partnerstädten Hamburg und Marseille und mit Unterstützung des Kulturreferats Hamburg, sollte Hoda im September 2020 eine Residenz im Centre Photographique Marseille verbringen. Die Residenz wurde aufgrund der Reisewarnung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Die Doppelresidenz ist eine Kooperation mit dem Goethe-Institut Marseille, M.Bassy und dem Centre Photographique Marseille, unterstützt von der Behörde für Kultur und Medien Hamburg. M.Bassy freut sich den Künstler Moussa Sarr (*1984) aus Marseille für das Artist in Residence-Programm zu Gast zu haben. Das Interview führte das Goethe-Institut Marseille.
Für was steht Marseille für Dich aus Deiner Hamburger Perspektive und welche Kontraste erwartest Du im Vergleich zur Hamburger / deutschen Kunstszene?
Beide Städte, Hamburg und Marseille, sind Hafenstädte. Sie stehen für mich für Offenheit und kulturellen Austausch. Ferner bilden diese beiden Städte eine Nord-Süd-Achse zwischen Deutschland und Frankreich, den zwei Ländern, in denen ich am längsten gelebt habe und die mir wichtig sind. Diese Achse steht gewissermaßen für meine Verwurzelung im Norden und meine Sehnsucht nach dem Süden.
Ich wohne seit 23 Jahren in Hamburg und liebe diese Stadt. So sehr ich mich mittlerweile in Hamburg zu Hause fühle, vermisse ich die Wärme und das Mittelmeer. Ich empfinde Sehnsucht für Marseille, wenngleich ich diese Stadt nicht kenne. Mit fünf Jahren zog ich von Deutschland nach Frankreich. Ich lebte hauptsächlich in Paris und war insgesamt 18 Jahre in Frankreich. In all den Jahren habe ich Marseille nicht ein einziges Mal besucht. Ich kenne Marseille nur aus meiner Vorstellung oder aus Erzählungen, zum Teil klischeehaft. Ich stelle mir eine Großstadt vor, die durch ihre Nähe zum Mittelmeer wärmer, sinnlicher und weicher ist als Paris. Und genau weil ich Marseille nicht kenne, war ich sehr angetan von der Idee, mehrere Wochen in Marseille verbringen zu dürfen. Eine neue Stadt und ihre Kunstszene zu entdecken ist ein Geschenk. Ich möchte mich bei allen Beteiligten, die diese Residency möglich machen, bedanken. Ich bin auf Marseille, seine Künstler, Institutionen, Galerien und Off-Spaces sehr gespannt.
Inwiefern haben dieses Jahr und die aktuellen Entwicklungen Impulse für Deine künstlerische Arbeit mit sich gebracht?
Die Pandemie hat sowohl mein Zeitgefühl als auch den Inhalt meiner Arbeit beeinflusst. Am Anfang der Pandemie waren da Unsicherheit, Hektik und Frust. Als sich der Lockdown in Deutschland abzeichnete, habe ich mich noch schnell mit Materialien (hauptsächlich Textilien) eingedeckt, um weiter arbeiten zu können. Ich hatte zwei große Textilskulpturen für eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle bis Mitte April zu fertigen. Als es mit dem Lockdown dann losging, wurden alle Projekte, die gerade auf Hochtouren liefen, erstmal eingefroren oder sogar gestrichen. Ich musste drei Wochen pausieren. Ab diesen Moment hat sich die Zeit für mich verlangsamt.
Die Pandemie hat mich auch viel über den Tod nachdenken lassen, ein Thema, worüber ich in den letzten Jahren in Bezug auf die alt-ägyptischen Rituale recherchiert habe. Ich interessierte mich insbesondere für die Mumifizierung und für den Glauben an das ewige Leben. Wegen der Pandemie sind viele Menschen gestorben, die Bilder aus Italien von den LKWs, die Leichen in Kolonne zu den Friedhöfen abfuhren, werden in meinem Gedächtnis eingebrannt bleiben.
Darüber hinaus hat die Pandemie für viele Teile der Gesellschaft massive Existenzängste und bedrohliche finanzielle Engpässe bedeutet. Der tiefste Punkt für mich war Mitte April. Der Antrieb, ohne konkrete Projekte und Aussichten weiter zu arbeiten, schwand. Zu dieser Zeit wurden die Zweifel immer größer. Am gefühlt tiefsten Punkt bekam ich eine Einladung von einem befreundeten Künstler und Verleger aus Beirut an einem Künstlerbuch-Projekt teilzunehmen. Künstler aus der ganzen Welt wurden eingeladen in Form eines Künstlerbuchs über ihre Quarantäne und Isolation zu berichten. Das war für mich wie eine Wiederbelebung. Eine Woche später kam dann die Einladung für die Residenz in Marseille. Das war der zweite Lebensschub für mich. Noch eine Woche später erhielt ich dann die Einladung an einer Ausstellung in einem Skulpturenpark in Hamburg teilzunehmen. Das war der Moment, von dem an ich wieder intensiv an die Zyklen in der alt-ägyptischen Kultur gedacht habe. Nach dem Tod, nach dem Ende, kann es einen neuen Anfang geben. Die Alt-Ägypter sahen schon im Alltag im täglichen Sonnenuntergang das Ende und im Sonnenaufgang am nächsten Morgen die Wiedergeburt. All dies hat eine Reihe von neuen Arbeiten angestoßen, wie die Serie „Mummy“ und „Sarcophagus“. Ich beziehe mich auf den Tod, auf die Mumie und auf den Körper der Frau, der wie ein Kokon Leben neu erschafft. Insofern hat die Pandemie nach dem ersten Schock für mich einen Neuanfang bedeutet.
Deine Arbeiten wurden schon an vielen unterschiedlichen Orten der Welt ausgestellt. Jüngst werden zwei skulpturale Arbeiten in der Schirn Kunsthalle präsentiert. Kannst Du uns etwas mehr zu dem Projekt erzählen?
Ich wurde vom Iranischen Künstlerkollektiv Rokni Haerizadeh, Ramin Haerizadeh und Hesam Rahmanian eingeladen zwei Textilskulpturen im Rahmen von deren Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt zu zeigen. Da die Künstler in Dubai leben und ich in Hamburg, haben wir uns per Videokonferenz, aber auch sehr viel per Whatsapp ausgetauscht. Wir haben uns Skizzen, Texte und Fotos hin und her geschickt und virtuell die von mir beizusteuernden Skulpturen geplant. Es handelt sich um zwei große Konstruktionen, die einem Esel ähneln sollen. Rokni, Hesam und Ramin haben die 3,5 x 4 x 3,5 Meter große, filigrane Stahlkonstruktion, also das „Skelett“ des Esels, in Dubai entworfen und schweißen lassen. Ich habe parallel, den „Leib“ oder das „Fleisch“ des Esels in Form von Textilobjekten in Hamburg gefertigt. Wir haben uns entschieden, einen weiblichen und einen männlichen Esel darzustellen. Mir war wichtig, in der Darstellung des männlichen und weiblichen Esels die gender-spezifischen Unterschiede ineinander fließen zu lassen. Das ist auch genau der Punkt, wo unsere Arbeiten und Herangehensweise sich begegnen. Ich fand es besonders spannend, dass die Zusammenarbeit ausschließlich virtuell stattfand. Es war ein sehr interessanter Austausch und viele Aspekte des Projekts waren für mich eine Bereicherung. Mich haben die kooperative Art und die Offenheit der Künstler sehr beeindruckt. Die Zusammenarbeit mit der Kuratorin Martina Weinhart und mit dem Team der Schirn Kunsthalle war ausgesprochen freundlich und sehr professionell.
In Deiner Arbeit spielt die Konzeption des Weiblichen eine besondere Rolle. Wie kann man diese Suche in Deiner Arbeit fassen und welche Rolle spielen konkret feministische Theorien für Deine künstlerische Praxis?
Meine persönliche Biographie spielt sicherlich eine große Rolle in meiner künstlerischen Praxis. Ich bin von „drei Müttern“ groß gezogen worden: Meiner Großmutter, meiner leiblichen Mutter und meinem Kindermädchen. Mein Vater hat sehr früh keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt. Mein Umfeld war sehr weiblich. Alle drei Frauen hatten üppige Körper. Die Formen, die Fülle und die Opulenz, die mit dem Körperlichen verbunden sind, finden sich in meiner Arbeit wieder. Diese drei Frauen waren aber sehr unterschiedlich in ihrem Wesen, ihren Rollen und ihrer sozialen Eingliederung. Unbewusst habe ich jede beobachtet, studiert und verinnerlicht. Ich denke, dass die unterschiedlichen Facetten des Weiblichen aus meiner Kindheit stammen und in meine Arbeit hineinfließen. Darüber hinaus spielen natürlich auch feministische Theorien in meinem Leben im Allgemeinen und in meiner Arbeit eine wichtige Rolle. Feminismus ist für mich ein Mittel, die Frau von gender-spezifischen Zwängen zu befreien, aber auch ein Mittel, um das Frausein zu zelebrieren. Beide Aspekte sind in meinen Arbeiten präsent.
Hoda Tawakol
Die in London geborene, franko-ägyptische Künstlerin Hoda Tawakol lebt und arbeitet heute in Hamburg. Ihre künstlerische Praxis umfasst neben Arbeiten auf Papier auch handgefärbte und genähte Textilarbeiten, Mixed-Media-Skulpturen, Stoffcollagen und Installationen. Im Rahmen des Programms „Résidences Croisées“ zwischen den Partnerstädten Hamburg und Marseille und mit Unterstützung des Kulturreferats Hamburg, sollte Hoda Tawakol im September 2020 eine Residenz im Centre Photographique Marseille verbringen. Die Residenz wurde aufgrund der Reisewarnung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Das Interview sowie zwei weitere Gespräche mit der Kuratorin Alya Sebti und der Künstlerin Ilana Salama finden Sie auf der Website des Goethe-Instituts Marseille zur Manifesta 13. Goethe-Instituts Marseille zur Manifesta 13.